Autor
Klaus Scheler
Deutschland
Herausgeber:
Diagnose-Funk e.V.
Veröffentlicht in:
ElektrosmogReport 3/2025
Veröffentlicht: 24.08.2025
auf EMF:data seit 24.08.2025
Schlagwörter zu dieser Dokumentation:
Bundesamt für Strahlenschutz
Fachartikel

Kommentar zur BfS-Bewertung der Studie von Bozok et al.

Commentary on the BfS Evaluation of the Study by Bozok et al.

Originaltext

Die Studie von Bozok et al. (2023) [1] „The effects of long-term prenatal exposure to 900, 1800 and 2100 MHz electromagnetic field radiation on myocardial tissue of rats“ untersuchte erstmalig die langfristigen Auswirkungen einer Befeldung von trächtigen Sprague-Dawley-Ratten (weiße Ratten) mit gängigen Mobilfunkfrequenzen auf das Herzmuskelgewebe ihrer neugeborenen männlichen Jungtiere.

Insgesamt wurde mit 6 Gruppen (zu n = 3) von trächtigen Sprague-Dawley-Ratten experimentiert: 1. Gruppe: Kontrollgruppe (nicht befeldet), 2. Gruppe: 900 MHz, 24 h/Tag, 3. Gruppe: 1800 MHz, kontinuierlich 6 h/Tag, 4. Gruppe: 1800 MHz, kontinuierlich 12 h/Tag, 5. Gruppe: 1800 MHz, 24 h/Tag, 6. Gruppe: 2100 MHz, 24 h/Tag. Insgesamt wurden die Tiere über einen Zeitraum von 20 Tagen befeldet. Nach 60 Tagen wurden die Jungtiere getötet und das Herzmuskelgewebe histopathologisch und biochemisch untersucht. Die Wissenschaftler beobachteten bei den Jungtieren aus den befeldeten Gruppen eine atypische Myokardmorphologie in Form von pyknotischen Nuclei (degenerierten Zellkernen), zytoplasmatischer Vakuolisierung [2], eosinophil gefärbtem Zytoplasma und eine Vergrößerung der myokardialen Muskelfasern.

Insbesondere nahmen die Herzmuskelschäden bei gleicher Befeldungsdauer (24 h/Tag) mit steigender Frequenz (900, 1800, 2100 MHz) zu, ebenso mit steigender Befeldungsdauer (6 h/Tag, 12 h/Tag, 24 h/Tag) bei gleicher Frequenz von 1800 MHz, so dass bei letzterem Ergebnis von einer Dosis-Wirkungs-Relation ausgegangen werden kann. Bei den Jungtieren aus der Kontrollgruppe traten die Schädigungen nicht auf: Ihr Herzgewebe zeigte eine typische Struktur der Herzmuskelzellen mit regelmäßigen Zellgrenzen und intaktem Endomysium.

In ElektrosmogReport 3/2023 [3] wurde die Studie besprochen und ihre Ergebnisse als konstruktiver Beitrag zur Problematik der Wirkung von HF-EMF auf den Herzmuskel bewertet. Fast gleichzeitig zum Erscheinen der Studie im EMF-Portal [4] erschien eine Bewertung vom Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder (KEMF) des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) [5], das die Studie rundum abwertet mit dem Fazit „Aus diesem Grund liefert die Studie keinen verlässlichen Beitrag zum aktuellen Kenntnisstand hinsichtlich HF-EMF und Effekten auf das Herz.“

Die angeführten Gründe für die Studienabwertung werden dem Anliegen und den Aussagen der Studie nicht gerecht. Die Kritik ist daher zurückzuweisen, wie folgende Gegendarstellung im Einzelnen zeigt.

 

Verfälschte Darstellung der veröffentlichten Fakten

  1. Das BfS behauptet in seiner Beurteilung, es sei nicht ersichtlich, ob die Zuordnung der trächtigen Ratten zu den verschiedenen Expositionsgruppen zufällig war. Diese Aussage ist unzutreffend: Die Studie war eine „randomized study“, wie klar unter dem Abschnitt „Methods“ der Studie zu lesen ist. Also war die Zuordnung zufällig, wie es auch üblich ist wegen der allgemein akzeptierten sonst möglichen Verzerrung.
  2. Zusätzlich behauptet das BfS, es wären trächtige Ratten auf die Käfige verteilt worden. Das stimmt nicht: Den weiblichen Ratten wurde in jedem Käfig eine männliche Ratte zugeteilt zwecks Paarung. D.h. die Schwangerschaftszeiten begannen daher nicht gleichzeitig. Erst nach Eintritt der Schwangerschaft wurde bestrahlt. Daher ist auch die folgende Kritik des BfS haltlos: „Es wird nicht erwähnt, ... ob die Exposition der Tiere gleichzeitig ... stattfand.“ [5] Das Vorgehen ist in der Veröffentlichung indirekt beschrieben.
  3. Das BfS behauptet außerdem, es sei nicht ersichtlich, ob „die [nicht exponierten] Tiere denselben Umgebungsbedingungen ausgesetzt waren wie die exponierten Tiere.“ Auch das ist der Veröffentlichung in dem Abschnitt „Animal care and welfare“ weitgehend zu entnehmen, zumal auf die Beachtung und Prüfung der Health Guidelines for the Care and Use of Laboratory Animals verwiesen wird.
  4. Die kritisierte geringe Zahl der untersuchten Tiere wird in dem Abschnitt „Discussion“ gut begründet: „However, animal welfare should not be ignored in these animal studies. Thus, we used a minimal number of pregnant rats (n:3) per exposure group and we examined a minimal number of male pups (n:6) from these litters in our study.” 

 

Vernachlässigung des Gesamtzusammenhangs

Das BfS kritisiert weiter, dass die in der Studie untersuchten Substanzen MDA, ein Biomarker für Lipidperoxidation (Zellmembranschädigung), und Glutathion (GSH), ein Antioxidans in der Zelle, keine validen Biomarker für ROS (reaktive Sauerstoffspezies, Sauerstoffradikale) seien und folgert daraus: „Die Aussage der Autoren, dass ihre Ergebnisse eine Rolle von HF-EMF bei der Entstehung von oxidativem Stress[1] unterstützen, ist daher aus Sicht des BfS auf Basis der verwendeten Methoden nicht ableitbar.“

An dieser Kritik zeigt sich, dass nicht berücksichtigt wurde, welche Rolle die Messung von MDA und GSH im Gesamtzusammenhang der Untersuchungen in der Studie spielt. Dieser wird im Folgenden zunächst kurz dargestellt.

Die kritisierte Aussage der Autoren beruht unter anderem – wie eingangs erwähnt – auf ihrem Untersuchungsergebnis einer Dosis-Wirkungs-Relation zwischen HF-EMF-Exposition und verschiedenen Herzmuskelschädigungen, die bei Nicht-Exposition gerade nicht auftreten. Außerdem wurde die Konsistenz dieser Befunde zu ähnlichen Ergebnissen von anderen Studien dargelegt. Damit sind wesentliche Bradford-Hill-Kriterien [6] erfüllt und somit weitgehend gesichert, dass die HF-EMF-Exposition als Ursache für die Herzmuskelschädigungen angesehen, also ein Kausalzusammenhang angenommen werden kann. Da in anderen Studien bei Einwirkungen von HF-EMF auf Organe immer wieder vermehrt ROS festgestellt wurden, bot es sich für die Autoren an, entsprechende ROS-Marker wie MDA und GSH auf biochemischer Ebene zu untersuchen und so den Kausalzusammenhang weiter abzusichern. Die Befunde der MDA- und GSH-Werte zeigten (bis auf eine Ausnahme) analog zu den Herzmuskelschädigungen eine (statistisch signifikante) Dosis-Wirkungs-Relation: Der MDA-Wert, d.h. die Lipidperoxidation (Zellmembranschädigung), stieg signifikant mit der Dauer der Bestrahlung (Dosis) an, der GSH-Wert, d.h. die Konzentration des antioxidativ wirkenden Glutathion in der Zelle, nahm entsprechend ab.

In der Kritik des BfS wurde ausgeführt, dass der MDA-Marker in erster Linie ein Marker für Lipidperoxidation und nicht unbedingt ein Marker für ROS ist, da MDA auch auf anderem Wege entstehen kann [7]. Man kann also von MDA nicht ohne Weiteres, also nicht automatisch auf ROS schließen, aber stets von ROS auf Lipidperoxidation und damit auf entsprechende MDA-Werte. Ähnlich verhält es sich mit den GSH-Werten, da GSH nur bei in-vitro-Versuchen als valider Biomarker für ROS gilt.

Die Aussage der Autoren der Studie, dass HF-EMF die Entstehung von ROS unterstützt, mag daher formal aus den MDA- / GSH-Daten allein (!), d.h. losgelöst von den genannten Befunden, nicht zwingend ableitbar sein. Das war auch gar nicht das Anliegen der Autoren. Aber im Zusammenhang mit der Tatsache, dass in der Kontrollgruppe keine Schädigung der Herzmuskelzellen und damit keine Lipidperoxidation in den Zellen aufgetreten ist und zudem bestrahlte Gruppen und Kontrollgruppe sonst gleichen Untersuchungsbedingungen ausgesetzt waren, bleibt HF-EMF als einzige relevante Größe übrig, um die gemessenen MDA- und GSH-Werte und darüber hinaus die Dosis-Wirkungs-Relation zu erklären. Die Befunde sind damit – wie die Autoren schreiben – im Einklang mit der Annahme, dass durch HF-EMF-Exposition ROS vermehrt auftreten.

Da das BfS diese Folgerung der Autoren ohne Berücksichtigung dieses Gesamtzusammenhangs der Argumentation ablehnt, wird die Bewertung des BfS als nicht nachvollziehbar und unberechtigt zurückgewiesen.

 

Fehlende Abwägung der Relevanz von Einflussgrößen

Es wurde vom BfS weiter kritisiert, dass einige Einflussgrößen (Verblindung gegeben? Alter der trächtigen Ratten? Ort und Art der Platzierung der Käfige, z.B. alle Gruppen im gleichen Raum? Kontrollgruppe mit abgeschalteter Antenne ausgestattet?) in der Veröffentlichung nicht erwähnt wurden. Diese hätten die Kritiker des BfS von den Autoren der Studie in Erfahrung bringen können. Die Bewertung, dass daher (!) ein „erhebliches Verzerrungsrisiko“ [5] nicht ausgeschlossen werden könne, ist eine suggestive, zweckgefärbte Folgerung: Denn das Vorliegen eines Verzerrungsrisikos ist einfach nicht beurteilbar, wenn man nichts über die Berücksichtigung dieser Einflussgrößen weiß. Genauso gut könnte man umgekehrt folgern, dass (trotz der nicht dokumentierten Einflussgrößen) eine erhebliche Relevanz der Studie nicht ausgeschlossen werden kann.

Grundsätzlich erlaubt Nichtwissen eine neutrale Folgerung nur in der Form: „Kann (abschließend) nicht beurteilt werden, ohne weitere Details zu kennen.“ Nichtwissen erlaubt nicht den folgenden Schluss: Gewisse Einflussgrößen wurden nicht beachtet und daher lässt sich Abwertung rechtfertigen. Es könnte ja auch sein, dass alle Fragen zu den fehlenden Einflussgrößen positiv beantwortet werden können. Wenn alle Kritikpunkte ausgeräumt werden können oder sich als marginal erweisen, dann könnte/müsste man sagen, dass eine erhebliche Relevanz der Studie vorliegt.

Bei jeder Studie können Einflussgrößen im Spiel sein, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht beachtet oder nicht dokumentiert wurden. Auch wenn dies zum Anlass für Kritik genommen werden kann, wird vor allem ein Aspekt ignoriert, der wesentliche Bedeutung für die Bewertung der Aussagekraft einer Studie hat: Die zahlreichen Einflussgrößen haben nicht alle die gleiche Relevanz für die Aussagekraft einer Studie. Und die Verzerrung der Ergebnisse bei der Nichtberücksichtigung von Einflussgrößen muss nicht automatisch erheblich sein, sie kann sogar marginal sein.

Eine ausgewogene Bewertung der Aussagekraft einer Studie muss sich damit unter anderem mit einer Abwägung der Relevanz der verschiedenen beachteten und nicht beachteten Einflussgrößen auseinandersetzen. Solange die Relevanz der verschiedenen Einflussgrößen nicht dargelegt und deren Abwägung für eine Bewertung nicht durchgeführt wird, kann von einer ausgewogenen Bewertung nicht gesprochen werden.

Eine Abwertung der Studienergebnisse (allein) auf dem Fehlen der Dokumentation von Einflussgrößen aufzubauen, ohne ihre Relevanz im Rahmen der Studie abzuwägen und die konstruktiven Teile der Studie zu würdigen, gleicht der Abwertung einer Blume, die noch keine Blüte aufweist.

 

Zusammenfassung

  1. Fakten, die in der Studie veröffentlicht wurden, wurden nicht beachtet, die Kritik ist daher an vielen Stellen unberechtigt und kann nur zurückgewiesen werden.
  2. Die Kritik des BfS beruht weiterhin auf einer mangelnden Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der in der Studie dargelegten Argumentation. Es werden Einzelbeobachtungen aus dem Zusammenhang gerissen, die Folgerungen der Autoren erscheinen dadurch nicht mehr zwingend. Nur so ist es dem BfS möglich, seine Scheinkritik zu formulieren.
  3. Weiterhin gründet sich die Abwertung der Studie auf wenige nicht in der Studie dokumentierte Einflussgrößen (siehe oben). Das BfS weiß nicht, ob oder wie sie berücksichtigt wurden. Es unterstellt aber, dass ihre Relevanz für die Aussagekraft der Studie erheblich sei. Das BfS erkennt zwar, dass die fehlenden Informationen zu diesen Einflussgrößen notwendig sind, „um die Qualität der Studie angemessen zu beurteilen“ [5]. Trotz dieses Nicht-Wissens beurteilt das BfS die Aussagekraft der Studie negativ. Nicht-Wissen als Wissen auszugeben und auf diese Weise die Studienergebnisse abzuwerten, ist eine scheinlogische Täuschung des Lesers.
  4. Es fehlt die Abwägung und Bewertung der Relevanz aller Einflussgrößen, insbesondere der dokumentierten und untersuchten Einflussgrößen. Aufgrund fehlender Kenntnis von wenigen Informationen über das Design der Studie lässt sich keine Kritik des Studienergebnisses, schon gar nicht eine abwertende, begründen.

Die abschließende umfassende Abwertung der Studie beruht somit auf Scheinargumenten. Es wird darüber hinaus ein Bewertungsschema des BfS deutlich, das auf einer Maximalforderung, auf einem Alles-oder-Nichts-Schema beruht: Denn das BfS legt fest, a) welche Einflussgrößen adäquat zu berücksichtigen sind, b) welche Zusammenhänge mit welchen Methoden zu belegen sind und c) dass die Studie abzuwerten ist, sobald eine oder mehrere Einflussgrößen nicht berücksichtigt oder nicht dokumentiert wurden oder Zusammenhänge nicht mit letzter Sicherheit belegt sind. Solch ein Vorgehen missachtet allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze des Bewertens und Abwägens aller (!) berücksichtigten und ggf. nicht berücksichtigten Aspekte (siehe oben) und führt zwangsläufig zu einer einseitigen und daher verzerrten, fragwürdigen und anfechtbaren Bewertung. Außerdem ist mit Hilfe eines Alles-oder-Nichts-Schemas einem Missbrauch des Bewertungsverfahrens für parteiliche Zwecke Tür und Tor geöffnet.

 

Quellen

[1]  Bozok S, Karaagac E, Sener D, Akakin D, Tumkaya L. (2023). The effects of long-term prenatal exposure to 900, 1800, and 2100 MHz electromagnetic field radiation on myocardial tissue of rats. Toxicol Ind Health. 2023 Jan; 39(1):1-9. doi: 10.1177/07482337221139586. Epub 2022 Nov 16. PMID: 36383165. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36383165/

[2]  Vivien Hornawsky (2025). Vakuole: Definition, Bildung und Funktionen. Vgl. https://www.medi-karriere.de/wiki/vakuole/

[3]  ElektrosmogReport 3/2023, veröffentlicht auf EMF:data unter https://www.emfdata.org/de/studien/detail&id=798, siehe auch unter
https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail&newsid=2002

[4]  EMF-Portal. Hinweis auf die Studie von Bozok et al.: https://www.emf-portal.org/de/article/49027

[5]  Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder (KEMF) (2023): Spotlight on "The effects of long-term prenatal exposure to 900, 1800, and 2100 MHz electromagnetic field radiation on myocardial tissue of rats" by Bozok et al. in Toxicology and Industrial Health (2022). https://doris.bfs.de/jspui/bitstream/urn:nbn:de:0221-2023060938290/4/SL_Bozok_2022_EffectsOfLongterm_Deu.pdf

[6]  Wikipedia (deutsch). Bradford-Hill-Kriterien: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84tiologie_(Medizin)#Bradford-Hill-Kriterien

[7]  Wikipedia (englisch). Thiobarbituric acid reactive substances (TBARS): https://en.wikipedia.org/wiki/TBARS

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[1]  Oxidativer Stress liegt vor, wenn die Bildung von oxidativen ROS so hoch wird, dass sie durch die antioxidativ wirkenden Substanzen in der Zelle nicht mehr kompensiert werden kann. Dies führt zu Schäden an der Zelle.